Martin Auer
Dichter

Das bin ich, so sehe ich aus. Na ja, nicht genau so. Warum ist man auf einem Foto immer jünger als in Wirklichkeit? Wißt ihr das?

(Wie alt ich jetzt bin, müßt ihr selber ausrechnen, ich weiß ja nicht, wann ihr das hier lest. Ich bin 1951 geboren, am 14. Januar, und zwar in Wien.)

Ich bin also einer von denen, die für euch Bücher schreiben. Vor zwölf Jahren habe ich das erste geschrieben. Und jetzt sind es schon neunzehn. Trotzdem kommt es mir immer noch so vor, als hätte ich gerade erst damit angefangen. Ich denke immer, daß ich noch übe, daß meine wirklich guten Bücher erst noch kommen werden. Wäre es nicht schrecklich, wenn ich mein bestes Buch schon geschrieben hätte?

Jetzt bin ich gerade Schriftsteller

Bevor ich angefangen habe, Bücher für Kinder zu schreiben, habe ich eine ganze Menge andere Dinge gemacht. Ich wußte als Kind schon, daß ich ein Dichter werden wollte. Als ich ganz klein war, fiel mir schon auf, daß meine Mutter oft in Bücher hineinstarrte, in denen gar keine Bilder waren, nur so kleine schwarze Striche. Sie nannte das „Lesen“, und wenn sie mir eine Geschichte vorlas, dann merkte ich, daß sie die Geschichte irgendwie aus diesen schwarzen Strichen herausholte. Das war ein großes Geheimnis, richtige Zauberei! Diese Kunst wollte ich auch beherrschen, und ich gab keine Ruhe, bis mir meine Mutter die Buchstaben erklärt hatte. Als ich in die Schule kam, konnte ich schon ein bißchen lesen und schreiben und gab natürlich sehr damit an. Ich las alles, was ich kriegen konnte, Bücher und die Zeitung und was hinten auf den Frühstücksflockenpackungen draufstand. Ich war begeistert über all die erstaunlichen, wunderbaren Dinge, die ich jetzt erfahren konnte. Und darum wollte ich selber einer werden, der solche Dinge schreiben kann. Das erste Gedicht schrieb ich so mit zehn Jahren. Es war nicht sehr gut. Die erste Geschichte, die in einer Zeitung veröffentlicht wurde, schrieb ich mit siebzehn Jahren. Ich wünschte mir, Schriftsteller zu werden, aber das zu wünschen genügt nicht, man muß es auch können. Und selbst wenn man das Talent hat, heißt das noch lange nicht, daß man davon dann auch leben kann. Also brauchte ich einen Beruf. Ich nahm mir vor, Lehrer zu werden. Ich wollte am Gymnasium Deutsch und Geschichte unterrichten. Ich finde es sehr wichtig zu wissen, wie die Menschen früher gelebt haben, wie unsere Welt so geworden ist, wie sie heute ist. Aber ich muß zugeben, daß mir das Studium zu langweilig war. Ich war am Anfang gern in die Schule gegangen, aber in den letzten Jahren nicht mehr. Und der Gedanke, noch einmal vier Jahre dasselbe machen zu müssen, kam mir schrecklich vor. Durch Zufall hatte ich den Leiter einen kleinen Schauspieltruppe kennengelernt, und als er einmal jemand brauchte, der Gitarre spielen konnte, und mich fragte, ob ich in einem Stück mitspielen wollte, tat ich das. Ich blieb dann sieben Jahre beim Theater. 
 
In dieser Zeit lernte ich eine Schauspielschülerin kennen. Wir verliebten uns und sie bekam ein Kind von mir. Also heirateten wir. Aber wir waren noch zu jung für eine Ehe und trennten uns nach zwei Jahren. Unsere Tochter blieb bei ihrer Mutter, aber ich habe sie oft besucht oder abgeholt und wir sind immer miteinander verbunden geblieben. Jetzt ist sie schon erwachsen. Nach sieben Jahren beim Theater bekam ich Streit mit dem Leiter der Gruppe. Mit zwei anderen gründete ich eine Musikgruppe. Eine Zeitlang hatten wir genug Konzerte, aß wir davon leben konnten. Wir nahmen auch eine Platte auf. Aber nach einer Weile wurde es schwieriger, wir trennten uns und ich machte alleine weiter. Ich schrieb damals viele Lieder. Weil ich von Konzerten allein nicht leben konnte, gab ich an einer Volkshochschule Gitarreunterricht. Ich schrieb auch ein paar Geschichten, aber niemand wollte sie drucken. Es wurde immer schwieriger für mich, genug Geld zu verdienen. Also schrieb ich Artikel für Zeitungen, und nach einiger Zeit nahm ich einen Halbtagsjob bei einem großen Werbeunternehmen an. Bei einem Halbtagsjob würde mir genug Zeit für meine künstlerische Arbeit bleiben. Ich arbeitete fünf Jahre in diesem Beruf. In dieser Zeit schrieb ich auch Lieder und witzige Vorträge und gab hin und wieder Kabarettvorstellungen. Oft trat ich zum Beispiel bei Veranstaltungen der Atomkraftwerksgegner auf und habe so ein bißchen mitgeholfen, daß in Österreich keines dieser gefährlichen Dinger in Betrieb genommen wurde. Einmal brauchte ich für so eine Vorstellung ein Zauberkunststück. Ich kaufte mir ein Zauberbuch und begann zu lesen, und das Zaubern ließ mich nicht mehr los. Ein oder zwei Jahre beschäftigte ich mich in meiner freien Zeit fast nur mit Zauberei, bis ich gut genug war, um als Zauberer öffentlich aufzutreten. Ich wollte nicht ewig in der Werbung bleiben. Wenn man in der Werbung arbeitet, muß man oft Dinge behaupten, an die man gar nicht glaubt, sogar Dinge, von denen man überzeugt ist, daß sie falsch sind. Einmal mußte ich schreiben, daß Zucker gesünder ist als Süßstoff. Später arbeitete ich für ein anderes Unternehmen und mußte schreiben, daß Süßstoff gesünder ist als Zucker. Ich schrieb Artikel darüber, wie toll es ist, daß es in Österreichs Bergen so viele Seilbahnen gibt. Dabei bin ich überzeugt, daß die vielen Seilbahnen und Sessellifte überall unsere Landschaft kaputt machen. Meine Freundin machte mir Mut, die sichere und gut bezahlte Stellung aufzugeben und wieder als freier Künstler zu arbeiten. Ich gründete ein Musikduo, gab Konzerte, trat als Zauberkünstler in Restaurants auf und schlug mich so durch. 

Das Zaubern brachte mich auf eine Idee: Vielleicht konnte man ein Buch machen mit verzauberten Bildern. Mit Bildern, auf denen Sachen erscheinen und verschwinden, sich verwandeln oder größer und kleiner werden und so weiter. Ich erfand solche Geschichten und schrieb auch die Geschichte dazu. Und weil Kinder Zauberei besonders gern mögen, schrieb ich eine Geschichte für Kinder. Das Buch sollte „Das verzauberte Buch“ heißen. Und weil ich schon dabei, schrieb ich gleich noch ein zweites Buch für Kinder: „Was niemand wissen kann“. Aber wenn man nun zwei Packen beschriebenes Papier hat, was tut man dann damit? Zufällig kannte ich seit vielen Jahren eine bekannte Kinderbuchautorin. Die konnte ich ja fragen. Ich rief sie an, und sie sagte, ich sollte ihr die Manuskripte schicken. Sie las sie, aber das „Verzauberte Buch“ gefiel ihr gar nicht. Dafür aber das zweite, das ich geschrieben hatte, und sie gab es mit ihrer Empfehlung einem Verleger. Die freundliche Frau, die mir so geholfen hat, ist Christine Nöstlinger. Meine Buch wurde vom Verlag wirklich angenommen. Aber ich mußte noch eineinhalb Jahre warten, bis es endlich gedruckt wurde und in die Buchhandlungen kam. Das waren sehr lange eineinhalb Jahre für mich. Als es endlich erschienen war und den Leuten gut gefiel, schrieb ich ein zweites Buch für Kinder, dann ein drittes, eine viertes...
 
Und seither ist das meine Hauptbeschäftigung. Aber meine Geschichten schreibe ich nicht nur in Bücher. Ich erzähle sie auch gerne selber. Ich reise herum, überall, wo Deutsch gesprochen wird, und erzähle meine Geschichten in Schulen Büchereien, Buchläden, manchmal auch in großen Theatern oder Konzertsälen. Mit meinem Zauberkoffer und meiner Gitarre war ich schon überall in Österreich, Deutschland, der Schweiz und Südtirol, aber ich habe auch schon in der Türkei, in England und Frankreich Kindern meine Geschichten erzählt. Das macht mir viel Spaß. Nur das ewige Bahnfahren und das Hotelleben werden mir manchmal zuviel. Soviel Zeit wie möglich verbringe ich auf einem uralten Bauernhof in den steirischen Bergen. Den haben meine Freundin und ich vor einigen Jahren renoviert. Hier können wir im Winter langlaufen oder Schitouren in die Berge machen, im Sommer wandern und klettern. Es gibt Unken und Kröten, Igel und Fledermäuse, einen Bach und einen Teich, Obstbäume und einen Gemüsegarten. Am liebsten bin ich da im Frühling, wenn der Schnee schmilzt und der Wald voll von Schneerosen ist.

So, jetzt wißt ihr ein bißchen über mich, und wie ich Schriftsteller geworden bin. Vielleicht bleibe ich nicht immer Schriftsteller. Wer weiß, was ich noch alles werde.

Ein paar Antworten auf ein paar Fragen

Wo kriegen Sie Ihre Geschichten her? Erfinden Sie die einfach? Welches ist Ihre Lieblingsgeschichte?
Markus

Ja, Markus, das eine der schwierigsten Fragen. Manchmal weiß ich wirklich nicht, wo eine Geschichte herkommt. Manche Geschichten wachsen anscheinend im Kopf, ohne daß ich es merke, und plötzlich sind sie da. Manche Geschichten haben mit Dingen zu tun, die ich selbst als Kind erlebt habe, mit Fragen, über die ich als Kind schon nachgedacht habe. Auf manche Ideen komme ich, wenn ich mit Kindern spreche, einige Geschichten habe ich sogar speziell auf Wunsch von Kindern geschrieben. Welches meine Lieblingsgeschichte ist, das ist auch nicht so einfach zu sagen. Heute, wo ich das schreibe, ist es gerade „Joscha unterm Baum“. Morgen gefällt mir vielleicht eine andere besser. Aber eigentlich sind alle Geschichten und Bücher, die ich schreibe, nur Teile einer großen Geschichte, die noch lange nicht fertiggeschrieben ist.

Warum haben die Kinder in Deinen Geschichten oft keinen Namen?
Jan

Wenn ein Kind in einer Geschichte keinen Namen hat, kann man sich, wenn man sie liest, leichter vorstellen, daß man selbst dieses Kind sein könnte. Außerdem muß ich dann nicht verraten, ob es ein Bub oder ein Mädchen ist. Wenn das Kind, das sich nicht vor Gespenstern fürchtet, zum Beispiel Susi hieße, dann würde ein Junge vielleicht sagen: „Ach, mich geht das nichts an!“

Liest du deine Geschichten noch einmal durch, oder schreibst du sie nur einfach hin?
Anna

Meine Geschichten lese ich fünfmal, zehnmal, fünfzehnmal durch, bevor ich sie wegschicke.

Ich mag alle Geschichten aus dem Buch "Von Pechvögeln und Unglücksraben". Ich mag es, wie die Geschichten aufhören. Eigentlich hören sie in der Mitte auf. Aber wenn Du weiterschreiben würdest, würdest Du alles nur wiederholen.
Katrin

Ja, Katrin, da hat du recht. Man muß nicht alles bis zu Ende erklären. Die das Buch lesen, sind selber gescheit, und können sich auch ihre eigenen Gedanken machen.

Ich finde die Gespenstergeschichte am besten. Das Kind sagt immer: "Es gibt keine Gespenster!" Und es rechnet eine schwere Malaufgabe. Aber in Wirklichkeit hat es Angst vor Gespenstern. Vielleicht hattest Du auch Angst vor Gespenstern, als Du noch ein Kind warst. Es könnte ja sein, daß Du deswegen die Geschichte geschrieben hast.
Sarah

Ja, auch ich habe manchmal Angst vor Gespenstern gehabt. Oder einfach vor der Dunkelheit. Auch heute gibt es Dinge, vor denen ich Angst habe. Zum Beispiel davor, etwas nicht zu können. Eine Zeitlang hilft es, sich einfach abzulenken, zum Beispiel mit einer Malaufgabe. Aber dann kann es sein, daß die Angst immer größer wird, bis sie ein richtiges Gespenst ist. Wenn man aber seine Angst vor sich selber nicht zugibt, dann kann man auch mit niemandem darüber reden, und dann kann einem natürlich auch niemand helfen.

Ich schreibe auch gerne Geschichten, am liebsten Phantasiegeschichten. Manchmal dauert da länger als eine Stunde. Wenn ich fertig bin, lese ich sie am liebsten meiner Freundin vor, und arbeiten wir in einer Schreibkonferenz zusammen. Wir suchen stärkere Wörter. Manchmal schreiben wir ein Stück neu. Und immer wieder lesen wir uns die Geschichten vor, bis wir sie schön finden. Und wie machst Du es? Gefallen Dir Deine Geschichten sofort?
Eva

Ja, ich mache es ganz ähnlich wie du, Eva. Nur ganz selten passiert es, daß ich eine Geschichte hinschreibe und sie sofort perfekt finde. Oft merkt man die Schwäche einer Geschichte erst nach einiger Zeit, nach ein paar Tagen oder Wochen. Manchmal ist eine Geschichte nicht witzig, weil ich irgend etwas zu früh verraten habe, was eigentlich eine Überraschung sein sollte. Manchmal fehlt eine kleine Auflockerung, damit eine Geschichte nicht zu traurig wird. Manchmal stört ein Witz aber auch. Manchmal entdecke ich, daß ich alles ganz falsch angefangen habe und die ganze Geschichte neu schreiben muß.

Wenn du soviele Geschichten schreibst, bleibt dir da noch Zeit für was anderes?
Johannes

Aber ja, es bleibt genug Zeit. Und dann ist ja das Schreiben das, was ich am liebsten tue. Nicht jeder hat das Glück, von seiner Lieblingsbeschäftigung auch leben zu können. Irgendwann reicht es mir dann natürlich, und dann bin ich froh, wenn ich im Garten arbeiten kann, oder zeichnen, oder neue Zaubertricks erfinden, Bücher lesen, Sport treiben, mit Freunden plaudern, ins Kino gehen, Musik hören, oder einfach nachdenken und vor mich hinträumen. 

Das Gedächtnis der Menschheit

Wenn wir nicht miteinander sprechen könnten, hätten wir es sehr schwer. Ein jedes wäre mit seinen Gedanken ganz allein. Niemand könnte von jemand anderem etwas lernen. Wenn eins ein Problem hätte, könnte es niemanden fragen. Ein jedes müßte alle Probleme selber lösen, ein jedes müßte alle Erfindungen neu machen. Wenn wir nicht miteinander sprechen könnten, müßte jedes Menschenwesen immer wieder ganz von vorne anfangen.

Wenn es keine Schrift gäbe, wäre es nicht ganz so schlimm. Aber wir könnten nur von den Menschen etwas erfahren, mit denn wir selber reden können. Wir könnten nicht die Gedanken von Menschen erfahren, die weit weg sind. Wir könnten nichts von den Menschen erfahren, die schon tot sind. Wer weiß, wie oft auf der Welt die Kunst des Feuermachens erfunden und wieder vergessen worden ist. Seit es Bücher gibt, können wir die Erfahrungen, die Ideen und Gedanken von Menschenwesen auf der ganzen Welt erfahren und nutzen, auch die von Menschen, die vor Tausenden von Jahren gelebt und gedacht haben. Wir können nacherleben, wie weit sie mit ihren Überlegungen gekommen sind und dort weiterdenken, wo sie aufgehört haben. Die Bücher sind das Gedächtnis der Menschheit.

Und es gibt noch so viele Rätsel zu lösen. Das größte Rätsel sind wir Menschen selber. Über dieses Rätsel denke ich viel nach. Was muß man tun, um glücklich zu werden? Warum sind so viele unglücklich? Was macht Menschen böse? Warum töten und quälen sie einander, wo doch kein Mensch ohne die anderen Menschen leben kann? Warum tun Menschen das Falsche, obwohl sie es besser wissen? Kann es sein, daß es einmal fast nur Liebe gibt, und fast keinen Haß? Wie muß man leben, damit man zufrieden ist, wenn man stirbt?

Eines allein kann diese Rätsel nicht lösen. Vielleicht ist es nicht möglich. Aber wenn es möglich ist, dann können es nur alle Menschen zusammen. Die von gestern und die von heute und die von morgen. Darum ist es wichtig, daß die Gedanken aufgeschrieben werden.