Martin Auer & Christine Sormann
Was die alte Maiasaura erzählt
Eine Geschichte über die Entwicklung des Lebens
Text: Martin Auer
Bilder: Christine Sormann
Erstveröffentlichung: St. Gabriel Verlag, Wien
Hundertfünfzig Millionen Jahre hatte das Volk der Dinosaurier die Erde
bewohnt. Da waren sie alt und weise geworden.
„Es ist Zeit für uns", sagte eine alte Maiasaura zu ihren Kindern und
Enkelkindern, „Zeit, daß wir gehen. Wir haben vieles gesehen und
vieles erlebt.
Viele haben vor uns die Erde bewohnt, und viele werden sie nach uns
bewohnen. Alles ändert sich ständig, nichts bleibt, wie es war.
Auch als wir kamen, war die Erde schon alt.
Als an den Ufern der Meere die ersten Pflanzen wuchsen, da kamen
auch bald die kleinsten Tiere ans Land, Würmer und Schnecken und
die Insekten, die Schwestern der Krebse und Spinnen.
Ihnen sind die Kinder der Fische gefolgt, die sich in Molche und
Salamander verwandelten.
Millionen Jahre waren die Kröten und Frösche, die Molche und
Salamander die Bewohner der Wälder. Doch sie mußten immer beim
Wasser bleiben, denn ihre Jungen müssen erst im Wasser groß werden,
bevor sie sich verwandeln, um an Land zu steigen.
Auch sie mußten gehen, nur wenige von ihnen sind zurückgeblieben.
Aber ihre Kinder sind wir, die Echsen. Wir konnten die ganze Erde
besiedeln, weil wir Wasser nur mehr zum Trinken brauchen. Die Sonne
trocknet uns nicht aus, sie wärmt uns und macht unsere Muskeln
geschmeidig. Wir haben uns ausgebreitet, und wie die anderen Tiere
vor uns haben auch wir Echsen uns in viele Stämme geteilt.
Unser Volk, das Volk der Dinosaurier, hat das Land besiedelt.
Manche von uns leben in den Wäldern, manche in den Sümpfen,
wir bewohnen die Berge und die Wüsten. Wir sind groß oder klein,
schnell oder langsam, Freunde des Tages oder Freunde der Nacht.
Manche essen große Pflanzen, und manche essen kleine, manche essen
Schnecken und Würmer, manche fangen Insekten.
schnell oder langsam, Freunde des Tages oder Freunde der Nacht.
Manche essen große Pflanzen, und manche essen kleine, manche essen
Schnecken und Würmer, manche fangen Insekten.
Es gibt auch welche unter uns, die ihre Brüder und Schwestern
aus dem Volk der Dinosaurier fressen. Das tut wohl weh. Aber die
Gejagten mußten schneller und schlauer werden, um den Jägern zu
entgehen, und die Jäger mußten stärker und klüger werden, um ihre
Opfer zu fangen. Immer neue Listen mußten die Jäger ersinnen,
und immer neue Schutzmittel mußten die Gejagten erfinden, und so
haben wir uns verändert und verwandelt, und unser Volk ist immer
reicher an Fähigkeiten und immer bunter an Formen geworden.
Und so wird es wohl gut gewesen sein.
Viel hat sich verändert, seit wir die Erde bewohnen. Am Anfang, als
wir noch wenige waren, gab es nur die eine gewaltige Insel inmitten
des Meeres.
Später ist sie zerbrochen, und ihre Teile sind auseinandergetrieben.
Auf jedem Erdteil ist unser Volk seinen eigenen Weg gegangen, und
unsere Brüder und Schwestern dort sehen anders aus als wir.
Wir haben gesehen, wie unsere Kusinen, die Schildkröten, wieder ins
Meer zurückgekehrt sind. Wir haben erlebt, daß einige unserer
Verwandten Pelze bekamen, die sie warmhielten, so daß sie auch
bei Nacht jagen und fressen konnten. Doch auch die pelzigen Echsen
sind schon lange dahingegangen.
Später kehrten auch andere Echsen ins Wasser zurück, ihre Füße
wurden wieder zu Flossen, und manche von ihnen sahen aus wie Fische.
Millionen von Jahren waren die Fischsaurier die größten Jäger der
Meere. Auch sie sind schon gegangen.
Verwandte von uns haben die Lüfte erobert, die letzten von ihnen
fliegen noch immer an den Küsten, stoßen ins Wasser hinunter und
fangen die Fische.
Wir haben erlebt, wie einige unserer Verwandten, die unter der Erde
nach Würmern gruben, ihre Beine verloren. Die waren ihnen beim
Wühlen nur im Weg. Sie wurden unsere Kusinen, die Schlangen. Doch
die Schlangen sind nicht unter der Erde geblieben. Manche sind wieder
auf die Bäume zurückgekehrt, manche sind auch ins Wasser gezogen,
manche leben im trockenen Wüstensand und manche in den Sümpfen.
So hat auch ihr Volk sich verändert und verwandelt und alle Gebiete
der Erde besiedelt.
Und auch die Pflanzen haben sich verändert. Bäume mit spitzen
Nadeln statt Blättern sind aufgetaucht, und wir durften sogar noch die
Geburt der Blumen erleben. Bunt und fröhlich ist die Erde geworden,
seit die Pflanzen mit vielfarbigen Blüten die Insekten anlocken.
Und einige unserer Kinder, die diese Insekten jagen, haben Federn
bekommen, um sich warmzuhalten. Wir haben gesehen, wie diese
kleinen Tiere auf Bäume geklettert sind, um Insekten zu jagen.
Und eines Tages haben sie ihre Flügel ausgebreitet und sind von den
Bäumen heruntergesegelt, anstatt mühsam hinabzuklettern. Bald
werden sie sich in die Lüfte erheben wie die Flugechsen vor ihnen."
Die alte Maiasaura blieb eine Weile still. Dann sagte sie:
„Ich hatte einen Traum vor einiger Zeit. Ich träumte von einer
neuen Welt, die ganz anders ist als die, die wir kennen. Die kleinen,
pelzigen Tierchen, die nachts im Unterholz nach Schnecken jagen,
die Kinder jener pelzigen Echsen, die schon lange ausgestorben sind,
sie haben sich ausgebreitet in meinem Traum. Sie haben große
und kleine Nachkommen, die alle Winkel der Erde bevölkern,
so wie wir es getan haben.
Auch von ihnen werden welche in die Meere zurückkehren,
auch von ihnen werden welche das Fliegen erlernen, aber niemals so gut
wie die Vögel.
Und einige von ihnen werden ihre Pelze ablegen. Sie werden sich auf
zwei Beine erheben, so wie manche von uns es getan haben, aber ihre
Vorderfüße werden geschickter sein als die unseren. Mit diesen Händen
werden sie die Welt verwandeln, wie es vor ihnen kein Tier gekonnt hat.
Sie werden nicht groß sein, aber sie werden die gewaltigsten Kräfte der
Erde nach ihrem Willen lenken, die Kräfte des Feuers,
des Wassers,
Der Winde
Ja, sie werden sogar die Kraft der Sonne lenken und die Kraft, die in
den kleinsten Teilen steckt, aus denen alles gemacht ist.
Wenn die Welt sich verändert, dann müssen auch die Tiere und
Pflanzen sich ändern, die diese Welt bewohnen.
Wer sich nicht ändern kann, wer in die neue Welt nicht hineinpaßt,
muß gehen, muß aussterben.
Doch die seltsamen nackten Zweibeiner werden sich nicht an die Welt
anpassen. Sie werden die Welt einfach so verändern, wie sie glauben,
daß es ihnen am nützlichsten ist. Sie werden die Pflanzen wachsen
lassen, die ihnen schmecken, und die anderen Pflanzen verdrängen.
Sie werden auch neue Tiere erschaffen, die ihnen ihr Fleisch geben,
ohne daß sie jagen müssen.
Sie werden sich künstliche Höhlen erschaffen, die sie bewohnen können,
und künstliche Häute und Felle, die sie wärmen. Ja sie werden sich
sogar künstliche Flügel erschaffen, mit denen sie schneller als jedes
andere Tier fliegen werden, und künstliche, runde Beine, auf denen sie
schneller laufen werden als ein Tyrannosaurus.
Tausendmal klüger werden sie sein als wir und tausendmal geschickter
und tausendmal stärker. Und doch werden auch sie einmal dahingehen
müssen und Platz machen für Wesen, die nach ihnen kommen.
Das habe ich geträumt.
Doch nun kommt die Nacht, und wir wollen schlafen. Und wenn die
Sonne aufgeht, wird sie auf eine andere Erde scheinen."
Nachwort
Manchmal dürfen Kinder sich von mir eine Geschichte wünschen. Diese hier hat sich
Rene Zrim aus Gleisdorf in der Steiermark gewünscht, und sie hat ursprünglich geheißen:
„Wie die Dinosaurier aussterben". Denn so eine Geschichte wollte der Rene haben. Und
darüber wollte ich ja auch schreiben. Aber als die Geschichte geschrieben war, da stand
doch etwas mehr darin. Es war eine Geschichte über das Werden und Vergehen des Lebens
auf der Erde geworden. Eine Geschichte über die „Evolution". „Evolution" heißt „Entwicklung",
und man versteht darunter diesen wunderbaren Vorgang, wie aus einer Pflanzen- oder
Tierart neue, unterschiedliche Arten entstehen, und aus diesen neuen Arten wieder neue
Arten usw. Jedes Lebewesen hat Nachkommen, die ihm ähnlich sind, aber nicht ganz gleich.
Von denen haben wieder diejenigen, die am besten in ihre Umwelt passen, die meisten
Nachkommen, so daß die Lebewesen immer besser an ihre Umwelt angepaßt sind. Aber
jedes Lebewesen ist ein Teil der Umwelt für die anderen Lebewesen. So verändern die
Lebewesen auf der Erde einander ständig, und das Leben ist immer im Wandel begriffen.
In der Geschichte ist es eine Maiasaura, die von der Entwicklung des Lebens auf der Erde
erzählt. Soviel ich weiß, ist das die einzige Saurierart, die von den Forschern einen weiblichen
Namen bekommen hat. Alle anderen heißen doch „Brontosaurus", „Tyrannosaurus" usw. Die
meisten Reptilien, die heute leben - zum Beispiel die Krokodile, Eidechsen, Schildkröten -,
legen ihre Eier in den Sand oder in die Erde und überlassen sie sich selbst. Wenn die Jungen
schlüpfen, müssen sie von Anfang an alleine durchkommen. So war das auch bei den
meisten Dinosauriern. Eines Tages aberfanden die Forscher die Überreste einer bestimmten
Dinosaurierart zusammen mit den Überresten von Jungen. Sie zogen daraus den Schluß, daß
diese Saurierart sich um ihre Jungen gekümmert hat, so wie das ja auch die Nachkommen
der Dinosaurier, die Vögel, tun. Daher gaben sie dieser Art den Namen Maiasaura, denn das
bedeutet: „Gute Sauriermutter". Die Maiasaura war eine der letzten Dinosaurierarten, die die
Erde bevölkerten. Sie lebte bis vor ungefähr 60 Millionen Jahren.